Im Zuge der industriellen Revolution begann sich die Lebensrealität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert gewaltig zu verändern. Eine kleine Schicht von Industriellen erlangte gewaltigen Reichtum, während ein Großteil der Menschen in Armut lebte. Den untersten Rand der sozialen Rangordnung bildete das Proletariat. Es bestand aus den klassischen IndustriearbeiterInnen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Fabriken arbeiten mussten. Aufgrund des allgemeinen Lohndrucks sowie der durch Bevölkerungswachstum und Landflucht verursachten großen Verfügbarkeit von Arbeitskräften hatten sie kaum Hoffnung darauf ihre Lebenssituation verbessern zu können. Erschwerend zu den miserablen Arbeitsbedingungen kam die völlige politische Entrechtung hinzu.

Obwohl schon vor 1848, heute als frühsozialistische bezeichnete, Ideen zur Schaffung einer gerechteren Gesellschaft entwickelt wurden, war der eigentliche Beginn der sozialdemokratischen Bewegung die Publikation des „Kommunistischen Manifests“ von Karl Marx. Es folgten weitere Werke, die schließlich im Monumentalwerk „Das Kapital“ gipfelten. Basierend auf seinen brillanten historischen und ökonomischen Analysen bildete sich langsam aber sicher eine neue Weltanschauung. Immer mehr Menschen engagierten sich in ganz Europa, um der Macht der Kapitalisten etwas entgegenzusetzen. Gerechter Lohn, bessere Arbeitsbedingungen und politische Repräsentation waren die wichtigsten Forderungen der frühen Sozialdemokratie.

In Österreich führte der Erlass des Vereinsgesetzes im Jahr 1867 zur Bildung von zahlreichen politischen Organisationen. Auf sozialdemokratischer Seite sind hier vor allem Arbeiterbildungsvereine zu nennen. Der erste wurde 1867 im Gumpendorf, einem Vorort von Wien gegründet. Ein Jahr später kam es zur Ausarbeitung des Hartung-Programms. Dabei handelte es sich um den ersten Forderungskatalog der sozialdemokratischen Bewegung in Österreich. Die Betonung politischer Rechte als Angelpunkte einer grundlegenden Veränderung der Lage der Arbeiterschaft war der zentrale Inhalt des Programms. Die sozialdemokratischen Ziele sollten „auf friedlichem und gesetzlichem Wege, lediglich durch die Macht der öffentlichen Überzeugung“ erreicht werden. Sechs konkrete Forderungen wurden gestellt. Darunter befanden sich die Forderungen nach einem unbeschränkten Versammlungsrecht, vollständiger Pressefreiheit, dem allgemeinen Wahlrecht und unbeschränkter Religionsfreiheit. Heute sind die geforderten Punkte in Österreich selbstverständlich. Damals wirkten sie auf die Staatsmacht geradezu revolutionär.

Dementsprechend brutal fiel auch die staatliche Reaktion auf die neue Bewegung aus. Vom Innenministerium wurden die sozialdemokratischen Ziele für unvereinbar mit den Prinzipien des Kaiserstaats und somit für staatsgefährdend erklärt. Die Folge war eine immer wiederkehrende Repression gegenüber Arbeiterführern. Obwohl offiziell durch das Vereinsgesetz geschützt, wurden SozialdemokratInnen immer wieder unter Vorwänden verfolgt, verhaftet und verurteilt. Es ist zweifellos festzuhalten, dass diese Vorgehensweise den Aufstieg der Arbeiterbewegung, die nach dem Erlass des Vereinsgesetztes massiv Zulauf hatte nachhaltig bremste. Hinzu kam die Krise des Jahres 1873. Der Crash der Wiener Börse hatte einen allgemeinen Niedergang der Wirtschafskraft zur Folge. Wie schon nach der Finanzkrise 2009 mussten vor allem jene für die Krise aufkommen, die sie nicht verursacht hatten. Massenarbeitslosigkeit und die damit verbundene Erhöhung des Lohndrucks führten zu einem deutlichen Erlahmen der sozialdemokratischen und der gewerkschaftlichen Bewegung.

In programmatischer Hinsicht wurde jedoch fleißig weitergearbeitet. So fand im Jahr 1874 der erste gesamtösterreichische Parteitag der Sozialdemokratie statt. Dieser musste bezeichnenderweise im burgenländischen Neudörfl, dass damals zur ungarischen Reichshälfte gehörte, abgehalten werden. Dort war man vor einer Verfolgung durch die Staatsmach einigermaßen sicher. Im Vergleich zum Hartung-Programm des Jahres 1868 war jenes von Neudörfl umfangreicher und ideologisch stärker ausgeprägt. In der Präambel hieß es: „Die österreichische Arbeiterpartei erstrebt im Anschluss an die Arbeiterbewegung aller Länder die Befreiung des arbeitenden Volkes von der Lohnarbeit und der Klassenherrschaft durch Abschaffung der modernen privatkapitalistischen Produktionsweise. Sie erstrebt an deren Stelle die gemeinschaftliche, staatlich organisierte Produktion der Güter.“ Diese Formulierung machte deutlich sichtbar, dass sich die Sozialdemokratie stärker in Richtung Marxismus orientierte als im Programm von 1868. Diese Grundausrichtung sollte die Partei auch in den darauffolgenden Jahrzehnten prägen.

Die neun konkreten Einzelforderungen der Sozialdemokratie waren für die damalige Zeit sehr fortgeschritten und für die Staatsmacht geradezu provokant. Wie schon 1868 wurde Presse-, Vereins-, Versammlung- und Koalitionsfreiheit sowie das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht gefordert. Die Wahlrechtsforderung wurde jedoch präzisiert. Das Wahlrecht sollte allen Staatsbürgern vom 20. Lebensjahr an für das Parlament, die Landtage und die Gemeindevertretungen sowie für alle Körperschaften, welche die Rechte und Pflichten der Gesamtheit wie der einzelnen Bürger zu wahren haben, gewährt werden. Die Forderung nach der Abschaffung des Stehenden Heeres und der Einführung eines Volksheeres war ebenfalls bereits im Hartung-Programm erhoben worden.

Neu und für die katholische Monarchie wohl besonders provokant, war der dritte Punkt des Forderungskatalogs. Kirche und Staat sollten vollständig getrennt werden. Ebenso sollte die Schule frei von kirchlichem Einfluss gemacht werden. Den Bereich der Bildungspolitik betraf auch Forderung Nummer vier. An allen öffentlichen Schulen sollte der Unterricht unentgeltlich sein. Das Rechtssystem betreffend wurde die Volkswahl für Richter und die Einführung des unentgeltlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens und der kostenlosen Rechtspflege gefordert. Die Punkte sieben bis neun beschäftigten sich mit wirtschaftlichen Themen. Die Abschaffung der Kinderarbeit wurde ebenso wie die Einschränkung der Frauenarbeit und die Einführung eines Normalarbeitstages in den Fabriken gefordert. Außerdem sollten alle indirekten Steuern abgeschafft und durch eine progressive Einkommens- und Erbschaftssteuer ersetzt werden. Der Staat sollte das freie Genossenschaftswesen fördern und freien Arbeiter- und Produktivgenossenschaften Kredite unter demokratischen Garantien gewähren.

Trotz unverändert brutaler Verfolgung tat die Sozialdemokratie alles in ihrer Macht Stehende um die genannten Forderungen unter die Menschen zu bringen. So gelang es Schritt für Schritt die Partei zu vergrößern. Um mehr Menschen zu erreichen wurden Zeitungen wie „Gleichehit“, „Wahrheit“ oder „Zukunft“ herausgegeben. Sie erschienen aufgrund von behördlicher Verfolgung und Geldmangel jedoch nur für kurze Zeit und unregelmäßig. Durch das unfaire Zensuswahlrecht, welches dafür sorgte, dass kaum ein Arbeiter wahlberechtigt war, blieben auf Hoffnungen auf Wahlerfolge illusorisch. Dies führte dazu, dass sich immer mehr Arbeiter radikalisierten. So bildete sich innerhalb der Sozialdemokratie ein anarchistischer Flügel, der die angestrebte schrittweise Veränderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege ablehnte.

Diese Spaltung wollte Viktor Adler unbedingt überwinden. Der Arzt und Journalist aus gutbürgerlichem Hause hatte sich mit Zeitungsreportagen einen Namen gemacht. Vor allem seine Berichte über das Elend der Wiener Ziegelarbeiter lösten ein großes Echo aus. Mit dem Erbe seines Vaters gründete er die Zeitung „Gleichheit“. Nach deren Verbot schuf er mit der Arbeiterzeitung das wichtigste sozialdemokratische Sprachrohr für nächsten 100 Jahre. Unermüdlich tourte er von 1886 bis 1888 durch Österreich um für die Einigung der Partei zu werben. Durch sein Charisma schaffte es immer mehr Menschen von der Notwendigkeit einer Aussöhnung der verfeindeten Parteiflügel zu überzeugen. Schlusspunkt von Adlers Bemühungen war der Hainfelder Parteitag, der von 30. Dezember 1888 bis 1. Jänner 1889 tagte und als Geburtsstunde der geeinten österreichischen Sozialdemokratie in die Geschichte einging.

 

Martin Amschl