Die Dynamik der Gerechtigkeit

Die Definition sozialer Gerechtigkeit befindet sich in einem ständigen Wandel. Vieles, das in früheren Gesellschaften als gerecht empfunden wurde, wird heute mehrheitlich abgelehnt. Wiederum vieles, das wir heute als gerecht empfinden, könnte in vielen Jahren als ungerecht oder unmoralisch gelten. Thomas Piketty liefert einige historische Beispiele.

Sklavenhaltergesellschaften waren von Brutalität und Ausbeutung geprägt. Zwischen 1500 und 1900 wurden etwa 20 Millionen Menschen aus Afrika verschleppt. In den Südstaaten Amerikas stellten die 4 Millionen Sklaven im Jahr 1860 rund 50% des Gesamtvermögens dar. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Sklaverei sukzessive abgeschafft. Vor 150 Jahren war völlig klar, dass nicht die Sklaven, sondern die Sklavenhalter für den Verlust ihres menschlichen Eigentums zu entschädigen sind. Alles andere wäre als höchst ungerecht empfunden worden.

Mit Hilfe von Steuergeld wurden die Sklavenhalter in Großbritannien in Höhe von etwa 5% des Nationaleinkommens entschädigt, was heutzutage rund 120 Milliarden Euro wären. Haiti musste für seine Unabhängigkeit (1825) Entschädigungen an die französischen Sklavenhalter in Höhe von rund 300% seines Nationaleinkommens leisten. Das entspricht in etwa der Höhe der deutschen Reparationsforderungen nach dem ersten Weltkrieg. Erst 1950 wurden die Schulden offiziell getilgt. In Russland und vielen anderen Ländern mussten die Sklaven nach ihrer „Befreiung“ jahrelange Zwangsarbeit leisten, um ihre früheren Eigentümer für den zugefügten Schaden zu entschädigen.

Mittlerweile ist gesellschaftlicher Konsens, dass man keine anderen Menschen besitzen kann. Vielleicht wird man sich in vielen Jahren auch wundern, wie es möglich war, dass einzelne Personen gesellschaftlich wichtige Unternehmen besitzen, die Gewinne privatisieren und damit erheblichen Einfluss auf die Demokratie nehmen konnten.

Auch die Vorstellung von Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit unterliegt einem ständigen Wandel. Während von 1930 bis 1980 Spitzensteuersätze von 60-80% auf Einkommen und Erbschaften in den USA, Großbritannien und vielen anderen Ländern selbstverständlich waren, würde man heutzutage von ungerechter Enteignung sprechen. Die historischen Analysen von Piketty zeigen, dass die Frage gesellschaftlicher Gerechtigkeit permanent neu zu verhandeln ist.

Das Versprechen der Leistungsgesellschaft

Jedes Ungleichheitsregime muss seine Ungleichheiten rechtfertigen. Im Feudalismus waren sie durch Gott gegeben, mit streng zugewiesenen Rollen. Das indische Kastensystem verspricht mehr Glück im nächsten Leben, wenn sich Angehörige unterer Kasten mit ihrem Schicksal zufriedengeben und nicht dagegen aufbegehren. Im heutigen Hyperkapitalismus, wie Piketty unser aktuelles System bezeichnet, erfolgt diese Rechtfertigung über das Argument der Leistung und dem Versprechen, dass man es durch eigene Leistung, Talent und Fleiß „schaffen kann“. Doch leben wir wirklich in einer Leistungsgesellschaft mit Chancengleichheit?

Leistungsgerechtigkeit bedeutet, dass finanzieller Erfolg auf gesellschaftlicher Leistung beruht. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob die Leistung eines einzelnen Menschen, die der meisten anderen um das millionenfache übersteigen kann. Hätten Milliardenvermögen überhaupt ohne staatliche Investitionen in Schulen, Universitäten, Straßen, Flughäfen, sowie Subventionen und umfassenden Eigentumsschutz aufgebaut werden können? Gibt es überhaupt „Selfmades“, die diese Vermögen aus komplett eigener Leistung und privaten Mitteln aufbauen konnten?

Spätestens, wenn die Vermögen vererbt werden, muss man sich über diese Fragen ohnehin keine Gedanken mehr machen. Denn dann liegt definitiv keine eigene Leistung vor. Im deutschsprachigen Raum gehen weit mehr als die Hälfte der Milliardenvermögen auf Erbschaften zurück. In Österreich ist der Anteil eigener Leistung an Vermögen über 30 Millionen Dollar mit weniger als 20% besonders niedrig. Die Forschung zeigt, dass Erbschaften der entscheidende Faktor für Vermögensungleichheit sind, weit wichtiger als Arbeitseinkommen oder Bildung. Eigene Leistung, sei es in der Schule oder am Arbeitsplatz, ist relativ unbedeutend im Vergleich zum Glück reicher Eltern. Der Trend zur neofeudalen Privilegiengesellschaft wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen.

Meist geht es in der öffentlichen Debatte um die Rechtfertigung exzessiver Vermögen. Viel seltener wird darüber diskutiert, weshalb es die meisten trotz Leistung und Fleiß niemals schaffen werden ein bedeutendes Vermögen aufzubauen. Haben die „unteren“ 50% der Menschen, die relativ betrachtet fast nichts mehr besitzen, keine Leistung erbracht? Die Schuldigsprechung der finanziell weniger Erfolgreichen ist laut Piketty einzigartig in unserem heutigen System. Gleichzeitig entkoppelt sich finanzieller Erfolg immer mehr von gesellschaftlicher Leistung.

Von Prädistribution zu Redistribution

Piketty betont die Wichtigkeit sich nicht nur mit der Frage der Umverteilung (Redistribution) zu befassen, sondern auch mit der primären Ungleichheit (Prädistribution), also mit der gerechten Entlohnung von Leistung. Einige Maßnahmen haben sich in der Vergangenheit besonders bewährt.

Dies waren insbesondere eine starke Rolle von Gewerkschaften und die Aufteilung der Macht in großen Unternehmen (zwischen Aktionären und Beschäftigten). Beides hat faire Gehaltsstrukturen gefördert und primäre Ungleichheiten reduziert. Auch der gesetzliche Mindestlohn, den es in zahlreichen Staaten gibt, hat seine Wirksamkeit bewiesen. Dabei ist eine Kombination von gesetzlichem Mindestlohn und starken Gewerkschaften besonders effektiv. Beides sollte keinesfalls in Konkurrenz zueinander gesehen werden.

Auch Vermögensteuern und hohe Spitzensteuersätze auf Einkommen setzen bereits bei der primären Ungleichheit vor Umverteilungsmaßnahmen an. Durch Vermögensteuern werden Investitionschancen innerhalb der Gesellschaft gerechter verteilt und hohe Spitzensteuersätze auf Einkommen reduzieren die Gefahr exzessiver Managervergütungen. Letztlich reduziert natürlich auch der gleichberechtigte Zugang zu Bildung die primäre Ungleichheit, jedoch zeigt Piketty, dass die Stratifizierung der Bildungssysteme auch in Europa ein massives Problem darstellt.

Steuern und Leistungsgerechtigkeit

Um Leistungsgerechtigkeit zu fördern, müsste Arbeitseinkommen niedrig und leistungsloses Einkommen, etwa Erbschaften oder Kapitalerträge, hoch besteuert werden. Das klingt eigentlich logisch, doch ist es in Österreich und den meisten anderen Ländern genau umgekehrt. Unser aktuelles Steuersystem gleicht einer auf den Kopf gestellten Leistungspyramide.

Arbeitseinkommen wird hoch besteuert, leistungsloses Kapitaleinkommen wie Zinsen oder Dividenden (in den USA spricht man selbstredend vom „unearned income“) hingegen mit einem niedrigen Einheitssteuersatz begünstigt. Leistungsfreie Vermögenszuwächse wie Erbschaften oder Glücksspielgewinne werden am geringsten bzw. gar nicht besteuert. Dadurch können die leistungslos geerbten Riesenvermögen leistungslos und steuerbegünstigt weiterwachsen, während Arbeitseinkommen höher besteuert wird und gleichzeitig langsamer wächst. Die Schere kann eigentlich nur auseinander gehen. Dies sind keine guten Aussichten für soziale Gerechtigkeit und den Mittelstand.

Neben der wachsenden Ungleichheit sieht Piketty übrigens die Erderwärmung als zweite große Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Er zeigt, dass die CO2-Emissionen innerhalb einer kleinen Gruppe sehr reicher Personen besonders konzentriert sind. Deshalb weist er auch auf die Probleme einer proportionalen CO2-Steuer hin und lehnt darüber hinaus sämtliche indirekten Steuern ab. Vielversprechendere Konzepte wären laut Piketty eine progressive CO2-Besteuerung oder ein CO2-Konto. Diese Ansätze sind natürlich sehr ambitioniert, weshalb Piketty vorschlägt, in der Anfangsphase eine (indirekt) progressive CO2-Besteuerung anzudenken. Beispielsweise könnten Güter und Dienstleistungen mit hohen CO2-Emissionen höher besteuert werden, etwa Kerosin oder Business-Class-Tickets.

Die Frage des Eigentums

Thomas Piketty schlägt einen nachhaltigen Mix aus privatem, gesellschaftlichem und staatlichem Eigentum vor, um ein gerechteres und nachhaltigeres Wirtschaftssystem zu schaffen.

Privates Eigentum stellt er keinesfalls in Frage, nur sollte eine demokratisch bedenkliche Vermögenskonzentration verhindert werden. Hierzu schlägt er eine progressive Vermögensteuer in Höhe von mindestens 5-10% auf die höchsten Vermögen vor. Dies wäre in Hinblick auf das langjährige, reale Wachstum der größten Vermögen von 6-7% pro Jahr notwendig, um eine nachhaltige Zirkulation von Vermögen innerhalb der Gesellschaft sicher zu stellen. Mit den Einnahmen würde Piketty eine „Erbschaft für alle“ finanzieren, die mit dem 25. Geburtstag ausbezahlt würde. Dieses staatlich finanzierte Grundvermögen würde in westlichen Staaten weit über 100.000 EUR pro Person betragen und damit eine nachhaltige Umverteilung gewährleisten.

Unter gesellschaftlichem Eigentum versteht Piketty eine ausgeglichene Verteilung der Macht in Unternehmen zwischen Aktionären und Beschäftigten. Dieser Ansatz zur Überwindung des Kapitalismus scheint sehr vielversprechend, da eine scharfe Abgrenzung zum Neoliberalismus (Sakralisierung von Privateigentum), aber auch zum ebenso gescheiterten zentralisierten Kommunismus (Sakralisierung von Staatseigentum) möglich wäre. Es wären nicht einmal Investitionen notwendig.

In Ländern wie Deutschland oder Österreich hat die Vertretung der Beschäftigen bereits Stimmrechte in den Aufsichtsräten großer Unternehmen. Piketty zeigt, dass diese Teilhabe zwar zu geringeren Börsenwerten, gleichzeitig jedoch zu einem höheren gesellschaftlichen Unternehmenswert führte: Wirtschaftsaktivität, Wirtschaftswachstum und auch die Gesamtproduktivität stiegen. Hier wäre ein vielversprechender Ansatz, das Mitspracherecht der Beschäftigten auszuweiten, sei es durch erweiterte Stimmrechte oder auch durch eine direkte Beteiligung am Kapital der Unternehmen.

Schließlich weist Piketty darauf hin, dass staatliches Eigentum in Bereichen wie Infrastruktur, Bildung, Sicherheit oder Gesundheit seine Überlegenheit bewiesen hat und diese Bereiche nicht dem privatwirtschaftlichen Gewinnstreben überlassen werden sollten. Beispielsweise steigt in den USA die Wahrscheinlichkeit eine Universität besuchen zu können linear mit dem Einkommen der Eltern. Spenden reicher Alumni an ihre ehemaligen Universitäten häufen sich in den Jahren, in denen ihre Kinder das Alter für Unibewerbung erreichen. Piketty betont jedoch, dass man sich bei der Frage der Überwindung des Kapitalismus nicht nur auf Verstaatlichung und Zentralisierung konzentrieren sollte. Sich nicht auf alle drei Formen des Eigentums in gleichem Maße konzentriert zu haben, hält Piketty für einen der Hauptgründe der aktuellen Schwäche der Sozialdemokratie, ebenso wie das Versäumnis Lösungen außerhalb der Nationalstaaten anzubieten.

Kurz und bündig

Würde man den Versuch wagen, die Kernaussage von „Kapital und Ideologie“ in einem einzigen Satz zusammenzufassen, könnte dieser lauten: Um den Kapitalismus dauerhaft zu überwinden, wäre eine dezentrale (Privateigentum in demokratisch vernünftigem Ausmaß), partizipative (Teilhabe der Beschäftigten an Unternehmen) und föderale (durch überstaatliche Lösungen) Sozialdemokratie der Weg zum Erfolg.

Es gibt keine ökonomischen Modelle zur Berechnung einer optimalen Vermögensverteilung, eines perfekten Steuersatzes oder eines gerechten Niveaus an Ungleichheit. Vielmehr unterliegen all diese Fragestellungen unseren subjektiven und individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen. Der Diskurs über soziale Gerechtigkeit muss also demokratisch, kollektiv und gleichberechtigt geführt werden und sollte keinesfalls einer kleinen „Expertenkaste“ überlassen werden. Mit dieser Empfehlung endet das Werk von Piketty.